Der große Prediger will an diesem Abend, von Halsschmerzen gequält und von Ängsten niedergedrückt, nicht sprechen. Es gießt in Strömen in Memphis, die Behörden haben eine Sturmwarnung ausgegeben. Da wird sich, fürchtet Martin Luther King, ohnehin kaum einer in die Mason Temple Church verirren, wo er auftreten soll. Er schickt Ralph Abernathy, seinen engsten Freund und Gefährten – der ihn wenig später aus dem Vestibül der Kirche anruft. Fast 3.000 Menschen haben dem Unwetter getrotzt. „Martin“, sagt er, „this is your crowd.“ Sie sind gekommen, um dich zu hören.

Als King um 21 Uhr die Kirche erreicht, heulen die Sturmsirenen. Müde tritt er vor die Versammelten. Ließe Gott ihn wählen, in welcher Epoche er leben wolle, sagt er, so würde er ihm antworten: „Wenn du mir erlaubst, nur ein paar Jahre in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu leben, dann bin ich glücklich.“

„Nur ein paar Jahre“: Nicht zum ersten Mal deutet King an, dass er seine Zeit ablaufen spürt. Im Februar, kurz nach seinem 39. Geburtstag, hat er seiner Gemeinde in Atlanta erzählt, wie er sich sein Begräbnis vorstellt – schlicht und ohne lange Reden. An diesem 3. April 1968 nun blickt er zurück auf die Stationen seines Lebens. Und erzählt von seiner Reise nach Memphis, von der Bombendrohung, die den Abflug seiner Maschine verzögert hat, von der Ankunft, als man ihn flüsternd warnte vor dem, „was mir von einigen unserer kranken weißen Brüder widerfahren könnte“.

„Schwierige Tage liegen vor uns“, sagt King. „Aber das macht mir jetzt wirklich nichts aus. Denn ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen.“ Gewiss, er würde „gern lange leben“. Aber darum sei er jetzt nicht besorgt. „Ich habe das Gelobte Land gesehen“, ruft er. „Vielleicht gelange ich nicht dorthin mit euch. Aber ihr sollt heute Abend wissen, dass wir, als ein Volk, in das Gelobte Land gelangen werden. Und deshalb bin ich glücklich heute Abend. Ich mache mir keine Sorgen wegen irgendetwas. Ich fürchte niemanden.“

Im Lorraine Motel in Memphis, auf dessen Balkon King erschossen wurde, befindet sich heute das National Civil Rights Museum.

Keine 24 Stunden später ist Martin Luther King tot, niedergestreckt von einer einzigen Kugel aus einem mittelkalibrigen Jagdgewehr.

Christian Staas, DIE ZEIT NR. !4, 28. März 2018